DIVA/CRIR CHRISTIANIA

In Sommer 2006 veröffentlichten die Zeitungen als Ergebnis einer weltweiten Erhebung, die Dänen seien das glücklichste Volk der Welt. Die Arbeitslosigkeit lag unter 4% und die Geburtenrate bei 1,74 Kindern je Frau. Auffallend viele junge Familien schoben Kinderwägen durchs Straßenbild und die Migrationspolitik sorgte dafür, dass es vorwiegend blond blieb. Kopenhagens Entwicklung war direkter Ausdruck der wirtschaftlichen Konjunktur. Wo noch vor wenigen Jahren Industriebrachen das urbane Gewebe zerrissen, waren die Immoblilienpreise neuer Wohnviertel in die Höhe geschnellt. Der Wert von Eigentumswohnungen verfünffachte sich. Wochenends vergnügte man sich mit der Besichtigung von Muster-Wohnungen oder der Zusammenstellung der neuen Einrichtung. Noch erinnerten die Anstrengungen Amager Strand in ein Naherholungsgebiet zu verwandeln, an technoide Spielplätze nach einem Atomschlag. Noch suchte man zwischen den Neubauten in Ørestad seinen Weg zwischen Baucontainern und Baggern. Der Sommer war ungewöhnlich heiß und eine Algenpest brachte die Wasserarme der Stadt zum Stinken.
»Die Suche nach dem perfekten Ort« führte uns in diesem Sommer nach Kopenhagen, wo wir Christiania und Tivoli erkundeten, den Freistaat und den Vergnügungspark. In den beiden ehemaligen Militärgeländen manifestiert sich die Differenz zur Norm, eine strenge Dichotomie von Innen und Außen.


2006 richtete Dänemark mit DIVA das einzige Stipendium für internationale Künstler ein, für das Lise Nellemann von Sparwasser HQ uns vorschlug. Wir wohnten in der Gästewohnung der Bikuben Foundation, die von der Bankiers-Gattin mit den dänischen Design-Ikonen ausgestattet worden war. Gleichzeitig durften wir als Christiania Researchers in Residence einen Monat lang zu teilnehmenden Beobachtern im Freistaat werden. So standen wir mit einem Fuß im etablierten Kopenhagen und mit dem anderen im eingesessenen Aussteigertum. Auf dem Weg dazwischen lag der Vergnügungspark Tivoli, für den wir eine Jahreskarte kauften. Auf der Suche nach dem perfekten Ort waren die beiden umzäunten Reservate Christiania und Tivoli und ihre Bedeutung für die Boomtown Kopenhagen Gegenstand unserer Forschung.

Beide sind geschlossene Gelände mit Ein- und Ausgängen zur Außenwelt. Beide folgen eigenen Regeln und kultivieren eine eigene Ästhetik. Wie in einer Hohlwelt spielt sich innen ab, was draußen fehlt. Als ungleiche Zwillinge spiegeln sie den Wunsch nach dem Anderen in einer homogenen Gesellschaft. Augenfällig ist der Akt des Zurschaustellens. Wie auf einer Etagere präsentiert Tivoli mitten im Stadtzentrum seine Vergnügungstechniken. Die Christianiten ihrerseits provozieren mit der Veröffentlichung eines unangepassten Lebensstils in der Tradition Diogenes von Sinope, der die Dualität zwischen privaten Verrichtungen und öffentlicher Rolle negierte.

In die Zeit unseres Aufenthalts fielen Veränderungen, die beide Orte radikal verändern sollten: Tivoli plante den Neubau eines Hotelturms im historischen Zentrum. Die Stadt ergriff Maßnahmen, den Freistaat Christiania zu »normalisieren« und das attraktive Gelände mit rund 400 Eigentumswohnungen zu bebauen. Das drohte nicht nur die Gemeinschaft zu sprengen, sondern auch, ihr durch ortsübliche Mieten und den Zwang, einer Wohnungsbaugesellschaft beizutreten, die ökonomische Grundlage zu entziehen.


Während unseres zweimonatigen Aufenthalts erkundeten wir das rund 34 Hektar große Gelände des Freistaats Christiania zu Wasser und zu Fuß. Wir studierten die Recycling-Architekturen, die Einfamilienhäuser der Dealer, das gehypte Restaurant und die Pusher Street. In langen Gesprächen mit den Bewohner:innen sowie mithilfe eines an alle Christianiten verteilten Fragebogens (QUESTIONAIRE pdf) erforschten wir Selbst- und Außenwahrnehmung der Gemeinschaft. Außerdem luden wir zu einem langen Kinoabend – HEIMKINO – ein, bei dem wir Filme präsentierten, die für uns auf unterschiedliche Weise mit Christiania korrespondierten:

Mad Max (1979, mit Mel Gibson)
Zardoz (1974, mit Sean Connery)
The Beach (2000, mit Leonardo DiCaprio)
Stalker (1979, mit Alexander Kaidanowski)
Westworld (1973, mit Yul Brynner)
Themroc (1972, mit Michel Piccoli)

Mit unserem Jahresticket für Tivoli arbeiteten wir uns methodisch durch jedes Fahrgeschäft des Vergnügungsparks. Neben dem Gespräch mit Geschäftsführer Lars Liebst begegneten wir Schausteller:innen, deren Familien seit Generationen Teil des Tivoli-Kosmos sind. Sie eröffneten uns einen Blick hinter die Kulissen und führten uns in Maschinenräume und Depots – Bereiche, in denen sich über Jahrzehnte hinweg Schicht um Schicht Arbeitsalltag, Technik und Erinnerungen abgelagert haben. »Tivoli will never be finished«, sagte sein Gründer Carstensen. Das gleiche gilt für Christiania – es muss sich verändern um zu überleben.


Im Kopenhagener Verlag Space Poetry erschien 2007 das Buch In Quest of the Perfect Location, das sich zwei der bekanntesten Heterotopien der Stadt widmet: dem Freistaat Christiania und dem Vergnügungspark Tivoli. Wir untersuchten ihre Bedeutung für das urbane Gleichgewicht der boomenden Metropole.
Zahlreiche Illustrationen fangen die Atmosphären der „Außenwelten“ Ørestad und Amagerstrand sowie der „Innenwelten“ Christiania und Tivoli ein. Der begleitende Text beschreibt die vielschichtige Dichotomie dieser Orte – zwischen Muße und Arbeit, Autonomie und Anpassung, Ordnung und Chaos, Provokation und Projektion –, die ihre besondere Konstellation prägt.
96 Seiten, 65 Abbildungen, Englisch
ISBN 87-7603-076-8